Die Regierung von Emmanuel Macron hat im Rahmen der Wiederbelebung der zivilen Kernenergie in Frankreich eine Reform des Systems der Expertise und der Kontrolle der nuklearen Sicherheit ûber den Tisch gelegt, die Fragen aufwirft.
Von Michaël Mangeon, Universität Paris Nanterre - Université Paris Lumières und Mathias Roger, IMT Atlantique - Institut Mines-Télécom.
Michaël Mangeon und Mathias Roger
10. März 2023, 9:22 Uhr
Demonstration von IRSN-Mitarbeitern in Paris am 28. Februar 2023. (Credits: DR)
Angesichts des dringenden Klimaschutzes und der Problematik der Souveränität und der Sicherheit der Stromversorgung hat sich die Regierung von Emmanuel Macron dafür entschieden, die Wiederbelebung und Modernisierung des nationalen Atomparks zu beschleunigen.
Seit der Ankündigung der "Renaissance der französischen Kernkraft" im Februar 2022, mit dem Bau von sechs Reaktoren von "neuen Generation" (Typ EPR 2) ab 2028, werden immer mehr Entscheidungen getroffen. Ein Beispiel hierfür ist der Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Verfahren im Zusammenhang mit dem Bau neuer und dem Betrieb bestehender Atomanlagen.
Im Rahmen dieses Entwurfs schlägt ein neuer Änderungsantrag der Regierung eine Reform des Systems der Expertise und Kontrolle der nuklearen Sicherheit vor. Um zu verstehen, was dabei auf dem Spiel steht, muss man die Art und Weise betrachten, wie sich dieses System in Frankreich entwickelt hat.
In den 1970er Jahren, während der Entwicklung des französischen Atomprogramms mit EDF-Kraftwerken, wurde ein System zur Expertise und Kontrolle der nuklearen Sicherheit mit drei Akteuren eingerichtet: eins, die Industrie; zwei, eine kleine Abteilung des Industrieministeriums, die 1973 zur Kontrolle der nuklearen Sicherheit gegründet wurde; drei, das IPSN (Institut de Protection et de Sûreté Nucléaire), ein Institut der Atomenergiebehörde (CEA), das 1976 gegründet wurde und für Expertise und Forschung zuständig ist.
Obwohl die Kraftwerke mit amerikanischer Technologie ausgestattet sind, wird das Modell der Expertise und Kontrolle auf der anderen Seite des Atlantiks als zu dirigistisch und reglementierend angesehen, um genutzt zu werden. Man zog es vor, einen historischen Ansatz beizubehalten, der flexibler und weniger reglementierend ist und die Annäherung der Positionen zwischen den Spezialisten der verschiedenen Organisationen durch direkten Austausch ermöglicht, was von den Protagonisten als "technischer Dialog" bezeichnet wird. Wirtschaftliche und industrielle Herausforderungen vermischen sich hier mit technischen und wissenschaftlichen Aspekten.
Dieses System hat sich als effizient erwiesen, um mit dem Tempo Schritt zu halten, das durch den forcierten Bau des französischen Atomparks vorgegeben wurde, und wurde sogar nach dem Atomunfall von Three Mile Island 1979 in den USA unterstützt, der mit dem zu stark reglementierenden Ansatz der amerikanischen Sicherheitsbehörde auf Kosten einer eher technischen Expertise in Verbindung gebracht wurde.
Nach Tschernobyl: Wiederherstellung des Vertrauens
Im Gegenteil, der Unfall von Tschernobyl (1986) und insbesondere die medienwirksame Affäre um die "radioaktive Wolke" beschädigte das Image der Kernenergie und des französischen Kontroll- und Expertensystems.
Als Reaktion darauf schlug das Parlamentarische Amt für die Bewertung wissenschaftlicher und technologischer Entscheidungen (OPECST) die Schaffung einer nationalen Agentur für nukleare Sicherheit und Information vor, die unabhängig von den Behörden die Anlagen überwachen und regulieren und den Publikum informieren sollte. Diese Idee wurde nicht direkt aufgegriffen, führte aber dennoch zu einer schrittweisen Veränderung des Systems.
1998 verfasste der Abgeordnete und OPECST-Mitglied Jean-Yves le Déaut auf Anfrage des neuen Premierministers Lionel Jospin einen Bericht mit dem Titel "Das französische System des Strahlenschutzes, der Kontrolle und der nuklearen Sicherheit: der lange Weg zu Unabhängigkeit und Transparenz". Er empfahl die Schaffung einer Oganisation völlig unhabhängig von der CEA mit der Schaffung einer anderen Sicherheitsbehörde, auch unabhängig von der Regierung . In dem Bericht heißt es auch, dass "die Schaffung einer zu starken organischen Verbindung zwischen der Sicherheitsbehörde und dem Expertenzentrum die Ausdrucksfähigkeit des Expertenzentrums einschränken würde".
Die Gründung einer öffentlichen Einrichtung für Expertise (Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire, IRSN) mit 1800 Experten und Forschern in allen Bereichen der nuklearen Sicherheit und des Strahlenschutzes im Jahr 2002 und die Gründung einer unabhängigen Verwaltungsbehörde für die Kontrolle mit mehr als 500 Mitarbeitern, der Autorité de sûreté nucléaire (ASN), im Jahr 2006 vervollständigt diesen Prozess, der darauf abzielt, das Vertrauen des Publikum in die Kontrolle und das Fachwissen im Bereich der Kernenergie wiederherzustellen.
Ende der 2000er Jahre, als Frankreich eine Wiederbelebung der Kernenergie in Betracht zog, erschien das System der Expertise und Kontrolle einigen als unangemessen. Ein Bericht über die Zukunft der Kernenergie, der von Präsident Nicolas Sarkozy bei François Roussely, einem ehemaligen EDF-Manager, in Auftrag gegeben wurde, weist auf die "Übereifrigkeit" der ASN hin. Der Bericht empfahl auch, dass das IRSN künftig die Verbreitung und Förderung der französischen Sicherheitsregeln und -normen übernehmen sollte, um die französischen Betreiber beim Export zu unterstützen.
Der Unfall in Fukushima Daiichi im März 2011 setzte diesen Bemühungen, die nukleare Sicherheit und industrielle Herausforderungen näher zusammenzubringen, ein vorläufiges Ende. Das französische System wird von den internationalen Instanzen regelmäßig als efektiv Modell gegen das Risiko der Kollusion zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem angesehen, das als eine der Hauptursachen für den Unfall in Japan identifiziert wurde.
Die neue Reform, ein historischer Bruch
Heute, als die Erinnerung von Fukushima verblasst und die Regierung angekündigt hat, das Atomprogramm wieder in Gang bringen zu wollen, wurde plötzlich ein Vorschlag zur Reform des Expertise- und Kontrollsystems durch eine einfache Pressemitteilung des Ministeriums für den ökologischen Übergang auf den Tisch gelegt. Insbesondere wird vorgeschlagen, das IRSN in eine "Super-ASN" zu integrieren, die dann die Doppelrolle des Experten und des Entscheidungsträgers in Sicherheitsfragen übernehmen würde.
Eines der erklärten Ziele der Reform ist es, "die Unabhängigkeit und Transparenz des französischen Systems der nuklearen Sicherheit zu verankern", indem das IRSN in die ASN, eine unabhängige Verwaltungsbehörde, überführt wird, die als objektiv unabhängiger angesehen wird, da sie nicht der ministeriellen Aufsicht unterliegt.
Die Regierung stellt ihr Projekt als eine natürliche Entwicklung des bestehenden Systems dar. Eine historische Analyse zeigt jedoch, dass es sich eher um einen Bruch handelt, sowohl in der Form - der Entwurf wurde nie im Vorfeld von Gremien wie OPECST diskutiert - als auch in der Sache - das derzeitige System wurde als Antwort auf eine Vertrauenskrise in die Kernenergie konzipiert, die mittlerweile deutlich nachgelassen hat.
Mehr Unabhängigkeit, aber welche Unabhängigkeit?
Darüber hinaus beruht die Reform auf einer restriktiven Definition des Begriffs der Unabhängigkeit, die sich aus einem einfachen institutionellen Status ergibt. Zahlreiche Arbeiten der Internationalen Atomenergiebehörde, der OECD oder Zusammenfassungen von Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass der Begriff der Unabhängigkeit im Gegenteil mehrere Dimensionen hat (funktional, organisch, faktisch...).
Wie in einem Bericht des parlamentarischen Büros zur Bewertung der Gesetzgebung über unabhängige Verwaltungsbehörden aus dem Jahr 2004 erwähnt, ist "Unabhängigkeit eine Geisteshaltung, und eine Geisteshaltung kann nicht verordnet werden". In diesem Sinne ist Unabhängigkeit nie endgültig erreicht und man muss immer mit dem Risiko der Vereinnahmung von Expertise und Kontrolle durch politische, industrielle oder wirtschaftliche Interessen rechnen. Unter diesem Gesichtspunkt wird die größere Nähe von Expertise und Entscheidung in einer "Super-ASN" die Unabhängigkeit der Expertise auf eine harte Probe stellen.
Kritik und Unausgesprochenes als Grundlage der Reform?
Ein weiteres erklärtes Ziel der Reform, das aus dem Vergleich mit anderen Aufsichtssystemen, die Expertise und Entscheidung in einem Organismus integrieren, abgeleitet wurde, besteht darin, "den Entscheidungsprozess zu verflüssigen und an Koordination zu gewinnen", um "die Kompetenzen und die Handlungsfähigkeit der ASN zu stärken".
Obwohl die Regierung erklärt, dass das derzeitige System funktioniert und nicht in Frage gestellt wird, ist diese Reform ein Echo auf die in den letzten Jahren öffentlich geäußerte Kritik an IRSN und ASN, die im Nuklearbereich oftmals Tabu-Themen sind.
Die Feststellung einer komplizierten Machtbeziehung zwischen den beiden Organisationen, sogar eines Medienwettbewerbs, wurde von Yves Bréchet, dem ehemaligen Hochkommissar für Atomenergie der CEA und Claude Le Bris hervorgehoben, die auch auf die zu "juristische" und wenig an die industriellen Zwänge angepasste Arbeitsweise der ASN hinwiesen.
In viel direkterer Weise spricht die Vereinigung Patrimoine nucléaire et climat (PNC) offen über die Auswüchse des IRSN, das den Prozess "Untersuchung - Gutachten - Entscheidung" verunreinigt, indem es seine Gutachten vor den Entscheidungen der ASN veröffentlicht. Das Gutachten des IRSN würde dann eine Art Vorentscheidung darstellen, die den Handlungsspielraum der ASN stark einschränkt.
Abwägung der Risiken dieser Reform
Letztendlich scheint es uns klar, dass diese Reform den Willen widerspiegelt, die Organisation der Expertise und Kontrolle der Sicherheit besser mit den neuen industriellen Herausforderungen (Bau neuer Kernreaktoren und Verlängerung der Betriebsdauer der in Betrieb befindlichen Reaktoren) in Einklang zu bringen.
Wir sind der Meinung, dass der Wille der Politik und der Industrie zu einer flüssigeren nuklearen Sicherheit, die den industriellen Herausforderungen besser entspricht, besser erklärt und vor allem angenommen werden sollte.
In einem Kontext starker industrieller Herausforderungen und in einer Welt in der Krise stellt eine solche Reform nicht nur einen organisatorischen Bruch dar: Innerhalb eines Systems mit interdependenten Komponenten gehen organisatorische Entwicklungen nicht ohne Veränderungen der Regeln, Praktiken, Beziehungen zwischen den Akteuren der nuklearen Sicherheit und sogar der globalen Philosophie der Expertise und Kontrolle ab. Von Three Mile Island über Tschernobyl bis Fukushima scheint die Funktionsweise des Kontroll- und Expertensystems eine der Ursachen für die großen nuklearen Unfälle zu sein.
Eine umfassende Bewertung der potenziellen Chancen und Risiken scheint eine unerlässliche Vorbedingung für die Einleitung einer Reform zu sein, die sich potenziell auf die Stabilität des Systems, die nukleare Sicherheit und letztendlich die Glaubwürdigkeit des neuen Nuklearprogramms auswirkt.
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